Renaissance des Privaten

Zuletzt haben die Menschen vor 200 Jahren so viel Zeit Zuhause verbracht. Lässt sich der Biedermeier mit heute vergleichen?

Was früher der Salon war, ist heute der Balkon: Eine Bühne. Während es im 19. Jahrhundert als schick galt in Wohnzimmern gemeinsam zu musizieren, lassen viele heute ihre Instrumente und Stimmen vom Balkon oder aus dem Fenster erklingen, um ein Zeichen der Solidarität während der Corona-Krise zu setzen.Wegen des Virus sind wir nun schon seit Wochen zu Hause. So viel Zeit in der Wohnung haben die Menschen zuletzt vor rund 200 Jahren während des Biedermeier verbracht. Mit dem Leben einst hat unsere aktuelle Situation aber nichts zu tun.

Abkehr von unübersichtlicher Welt
Damals verlagerte sich das Geschehen als Reaktion auf politische Umbrüche und gesellschaftliche Turbulenzen ins Private. Kunsthistorikerin und Kuratorin des Wiener Hofmobiliendepots Eva Ottillinger: „Wenn wir Wien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Blick nehmen, so hatte der Rückzug vor allem einen politischen Hintergrund. In Folge der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege war unter Staatskanzler Metternich ein strikter Polizeistaat mit Spitzelwesen aufgebaut worden, um revolutionäre Ideen bereits im Keim zu ersticken.“

Foto Weinwurm GmbH.

Eva Ottillinger, Kunsthistorikerin und Kuratorin des Hofmobiliendepots.

Vom Tanzfieber erfasst
Das bedeutete jedoch keinen strikten Rückzug ins eigene Zuhause, wie wir es jetzt erleben. Konzerte und Theater florierten, die Bevölkerung lenkte sich beim Tanzen ab und wiegte sich auf dem Parkett im Dreivierteltakt. Der Wiener Walzer und die Ballkultur erlebten zur Zeit des Biedermeier ihren Höhepunkt. Ausgehen, Tanzen, Feiern – Dinge, von denen wir derzeit nur träumen können.

Weil die Wohnung Mittelpunkt des Lebens war, legten die Bürger Wert auf ein schönes Wohnzimmer. Biedermeier-Möbel waren von schlichter Eleganz und hoher handwerklicher Qualität, Stoffe und Tapeten farbenfroh und modisch gemustert. Tischler schreinerten die Möbel und arbeiteten mit Tapezierern, die die Sitzmöbel polsterten, Vorhänge nähten und Wände mit Stoff bespannten zusammen. Ottillinger: „Stoffe kamen aus dem ’Seidengrund’, dem Weberzentrum in Wien-Neubau. Papiertapeten wurden in Wien von Spezialfirmen mit vielen Mustern produziert. Es gab bereits Teppichböden, die aus der Linzer Wollzeugfabrik kamen. Leuchtkörper fertigten die Bronzearbeiter, das Geschirr kam aus der Wiener Porzellanmanufaktur. Wien war in der Biedermeier-Zeit ein Design-Zentrum.“

Bundesmobilienverwaltung 2020/Edgar Knaack

Schlichte, elegant geformte Möbel, edle Hölzer, gemusterte Tapeten und kräftige Farben waren gefragt.

Cocooning: Rückzug wieder hip
Das Interesse an Wohnkultur ist auch heute wieder groß. Junge Designer entwerfen Möbel und Geschirr, traditionsreiche heimische Hersteller beauftragen Gestalter mit der Neuinterpretation ihrer Produkte. Die Renaissance des schönen Wohnens wird durch das Phänomen des „Cocooning“ zusätzlich befeuert. Wie im späten 19. Jahrhundert handelt es sich dabei um eine Gegenstrategie gegen das unwirtliche Leben in der modernen Großstadt, sagt Ottillinger. „Es geht damals wie heute um die Probleme der Beschleunigung, der Umweltverschmutzung und der (beruflichen) Fremdbestimmtheit.“

Bundesmobilienverwaltung 2020/Fritz Simak

Ein Möbelstück, das nicht fehlen durfte: Der Schreibsekretär. 
Der Funktion nach war er um 1825/30 das, was heute ein Laptop ist. 

Schrumpfender Aktionsradius
Das Virus ist der wohl radikalste Entschleuniger, den wir in den letzten 200 Jahren erlebt haben. Er reduziert unseren Aktionsradius enorm – das spüren vor allem jene 1,5 Millionen Österreicher, die in einer Single-Wohnung leben. 37,4 Prozent der Bevölkerung lebten 2019 allein, wie die Statistik Austria vor Kurzem veröffentlichte. Prognosen zufolge soll der Anteil weiter steigen. Die aktuelle Situation bietet Gelegenheit, diesen Trend umzukehren und in Zukunft wieder größere und leistbare Wohnungen zu planen und zu errichten. Das Zuhause bleiben würde dann vermutlich etwas leichter fallen.

Die Biedermeierzeit

Die Epoche begann 1815 mit dem Ende der napoleonischen Herrschaft in Europa und dem Wiener Kongress und dauerte bis zur bürgerlichen Revolution im März 1848 (sie wird deshalb auch Vormärz genannt). Die Zeit war geprägt von zunehmender Industrialisierung und politischen Unruhen, die Bevölkerung getrieben vom  Wunsch, sich ins häusliche Idyll zurückzuziehen. Neben wichtigen literarischen und musikalischen Werken entstand auch ein neuer, bürgerlicher Einrichtungsstil, dessen Qualitäten gute Handwerksarbeit, lokale Produktion, Verwendung heimischer Werkstoffe und Nachhaltigkeit waren.   

Eine beträchtliche Anzahl von Möbeln und Interieurs aus der Biedermeierzeit kann man im Wiener Hofmobiliendepot bewundern. www.hofmobiliendepot.at

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