Spazierengehen war noch nie so befreiend und schön wie dieser Tage. Wir lassen uns von unserem Grätzl überraschen.
Spaziergang 1: Durch die Stadtwildnis in der Leopoldstadt
„Wer geht mit spazieren?“ frage ich meine beiden Söhne. Kind, groß: „Ich nicht“. Kind, klein: „Nein.“ Na gut, das war klar. Spazierengehen und Kinder passen nicht zusammen. Ich noch einmal: „Wer geht mit mir Kröten fangen?“ So schnell kann ich nicht schauen, und die beiden haben Schuhe und Jacke übergestreift.
In meinem Viertel beginnt die Wildnis zum Glück gleich hinterm Haus. Zumindest die Stadtwildnis. Was meine beiden Buben zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht ahnen ist, dass wir wahrscheinlich gar keine Kröten antreffen werden, weil diese noch im Winterschlaf sind – falls Kröten überhaupt Winterschlaf halten, so genau weiß ich das nämlich auch nicht. Hauptsache raus. Und da ist mir jede Notlüge recht.
Wir wohnen seit sieben Jahren am ehemaligen Nordbahnhof in der Leopoldstadt. Früher wurden Kohle und Güter hier verladen, dann wurde das Gelände still gelegt und es zur „Gstetten“. Verschiedene Tiere wie Feldhasen, Vögel und auch die unter Schutz stehende Wechselkröte siedelten sich hier an. Manchmal trauen sich die Hasen in der Nacht sogar bis vor unser Haus. In den vergangenen Jahren haben wir diese spezielle urbane Flora und Fauna bei Streifzügen immer wieder beobachtet und erkundet. Als wir diesmal losstapfen fällt uns auf, dass wir schon lange nicht mehr hier waren.
Die Bauarbeiten für den neuen Stadtteil sind – ohne dass wir es bewusst gemerkt haben – schon sehr weit fortgeschritten. Bagger, die gerade still am Rand stehen, haben große Flächen der Gstetten planiert. „Wo leben jetzt die Hasen?“ fragen die Jungs besorgt. Wir gehen ein Stück weiter, vorbei an den Ruinen der kürzlich abgebrannten Nordbahnhalle und finden noch ein wildes Stück Natur in der Nähe des Wasserturms.
Dort gibt es einen Teich, der zum Schutz der Wechselkröten angelegt wurde, sodass sich die Tiere in Ruhe fortpflanzen können. Dass keine Kröten zu sehen sind, fällt den Kindern nicht auf. Denn viel spektakulärer sind die Enten am Teich, die sich von ihnen mit alten Keksen anlocken lassen. Und die Exkremente der Hasen, die wir finden. Der Kleine atmet auf: „Die Hasen leben noch.“
Spaziergang 2: Erkundungslauf durch Hernals
Der 17. Bezirk hat es nicht leicht. Auf der einen Seite liegt das stolze Währing, mit seinen prunkvollen Gründerzeit-Fassaden, feinen Läden und dem Kutschkermarkt. Auf der anderen Seite stiehlt die berüchtigte Ottakringerstraße mit seinen Diskotheken, Beisln und dem Yppenplatz dem kleinen Arbeiterbezirk die Schau. Ich weiß, mit beschaulichen Grätzeln kann mein Hernals nicht punkten, mit seiner Lage aber umso mehr. Erstens zahle ich eben nicht die um ein vielfach höhere Miete des 18. Bezirks und auch nicht die des boomenden 16. – Ottakring wird das neue Bobostan, ich sehe es kommen.
Zweitens ist meine Laufroute unschlagbar abwechslungsreich, hier als Grätzelrundgang vorgestellt. Es beginnt in der Schumanngasse – ja, ohne „h“, der Namensgeber ist ein Komponist. Schon nach wenigen Minuten kommt man hier bei einer Werkstatt vorbei, die nicht nur in Wien, sondern in ganz Europa einzigartig ist: eine Schneekugelmanufaktur. Seit bereits 116 Jahren produziert der Familienbetrieb die Original Wiener Schneekugel, die Touristen und Touristinnen aus aller Herren Länder zu verzaubern vermag.
Weiter gehts, die Alszeile entlang. Eine breite Allee, auf der flaniert, gejoggt, Gassi geführt, geradelt und gespielt wird. Wer wachsam ist, wird merken, wie der Bezirk allmählich grüner wird, bis – ooohh – auf der rechten Seite sich ein großer Weinberg im Sichtfeld aufbaut. Oben trohnen schicke Villen, unten am Fuße des Hügels drängt sich der Kleingartenverein Alsegg. Hier quere ich die Schienenstraße und biege links in einen gelben Torbogen der Dornbacher Pfarre ein.
Diesen Schleichweg kennen nur wahre Hernalser, aber ich teile mein Wissen gern. Vor allem in solchen Zeiten, wo die Sehnsucht nach ein bisschen Natur und frischer Luft noch größer ist als sonst. Wer über den Kirchplatz geht und die Andergasse hinauf, kommt auf direktem Weg in den Wienerwald. Hier laufe ich oft über das Wurzelwerk, bis das Seitenstechen kommt. Vielleicht auf bald, in Hernals!
Spaziergang 3: Alle Wege führen zur Wientalterrasse
„Wer soll da sitzen wollen? Direkt neben der dicht befahrenen Straße“, höre ich mich fragen. „Keine Ahnung“, antwortet mein Freund ebenfalls völlig fassungslos über den neuesten Plan der Stadtentwickler. Dieses Gespräch haben wir vor sechs Jahren geführt. Damals war die sogenannte Wientalterrasse direkt neben der U4-Station Pilgramgasse gerade im Entstehen.
Große Schilder zeigten zukünftige Bilder einer 80 Quadratmeter großen Terrasse, ausgelegt mit Holzlatten, über dem Wienfluss. Darauf standen große Blumenkisten und Bänke zum Sitzen. „Klingt ja ganz nett, wenn nicht wenige Meter weiter die permanent stark befahrene linke Wienzeile liegen würde“, sage ich damals immer wieder.
Mittlerweile wohnen wir in Margareten, nur zehn Gehminuten von der öffentlichen Terrasse entfernt, die auf mich eine magische Anziehung zu haben scheint. Denn: Jeder meiner Spaziergänge scheint dort zu enden. Einmal am Tag muss ich raus aus den immer enger werdenden vier Wänden. Mit mindestens zwei Metern Abstand zu allen anderen Wienern am Zebrastreifen und häufigem Straßenseitewechseln, sobald mir eine grau- oder weißhaarige Person begegnen könnte, flaniere ich durch den fünften Bezirk.
Entlang der Wiedner Hauptstraße, vorbei am Matzleinsdorfer Platz und meinem geliebten 48er-Tandler, reihen sich Gemeindebauten an Gründerzeithäuser. Ein paar Menschen begegnen mir, während ich die Einsiedlerstraße hinuntergehe. Sie vertreten sich ebenfalls die Füße oder schieben rollende Einkaufstaschen hinter sich her. Ich lande schließlich auf der rechten Wienzeile und flaniere mit der Sonne im Rücken in Richtung Pilgramgasse.
Wie so oft bleibe ich vor der Wientalterrasse stehen. Die Menschen sitzen allein, maximal zu zweit auf den Bänken. Für mich ist heute leider kein Platz frei. Ich genieße den kurzen Abstecher auf meine Terrasse trotzdem, spaziere kurz über die Holzlatten, werfe einen Blick auf die Blumenkisten und komme bald wieder.