Neue Bücherwelten: Bibliotheken werden immer mehr zum Lebensraum

Bibliotheken beherbergen heute mehr als Bücher: sie sind erweiterte Wohnzimmer. Die besten Bauten im In- und Ausland.

Bücher auszuleihen, der ureigene Zweck von Büchereien, spielt auch heute noch eine Rolle bei der Planung von Bibliotheksbauten. Sonst aber hat sich viel geändert. Waren sie früher hauptsächlich Orte des Lesens, Lernens und Arbeitens – um allen Menschen den Zugang zu Wissen zu ermöglichen, sind nun andere Funktionen hinzugekommen. Der Grund: Viel Wissen kann heute über das Smartphone abgerufen werden. „Die neue Generation von Bibliotheken hat hauptsächlich den Anspruch, Kommunikationszentrum zu sein“, bringt es Architekt Thomas Pucher, der die neue Unibibliothek in Graz geplant hat, auf den Punkt.

Die Bauten haben den Zweck, Räume anzubieten, wo sich Menschen treffen und Zeit verbringen können. Denn öffentlicher Raum, wo man sich aufhalten darf, ohne etwas konsumieren zu müssen, ist knapp geworden. Aus diesem Grund werden aus Lesetempeln im digitalen Zeitalter attraktive Lernbereiche mit hoher Aufenthaltsqualität.

Atelier Thomas Pucher & Anna Artaker

Die UB neu, wie sie genannt wird, hat im September 2019 eröffnet und ist die modernste Bibliothek Österreichs. Entstanden ist ein auskragender Glasbau, der über dem historischen Lesesaal zu schweben scheint.

Atelier Thomas Pucher & Anna Artaker

Die Gründerzeitfassade wurde freigelegt, UB und Hauptgebäude sind durch ein lichtdurchflutetes Foyer verbunden. Ein Architektenteam  um Thomas Pucher  hat den  Blickfang gestaltet. 

Um die verschiedenen Funktionen unter einen Hut zu bringen, gibt es in modernen Bibliotheksbauten geschützte Bereiche, wo man sich zurückziehen kann. Und offene Bereiche. Diese Zweiteilung vollzieht sich auch bei der Einrichtung. So gibt es in der Unibibliothek Graz geometrisch streng angeordnete Arbeitsplätze in der Galerie, „während es hin zur Terrasse Loungemöbel gibt, dazwischen gibt es Sofas mit hohen Lehnen, die eine gewisse Privatsphäre gewährleisten“, so Thomas Pucher.

Ossip van Duivenbode/MVRDV

Von außen fällt die  Glasfassade mit der ellipsenförmigen Aussparung ins Auge, geplant wurde das Gebäude vom niederländischen Architekturbüro MVRDV. Besucher gelangen  ins Atrium, wo im Zentrum eine riesige Kugel ist, deren reflektierende Oberfläche den Raum optisch vergrößert. In ihrem  Inneren befindet sich das Auditorium. 

 

Ossip van Duivenbode/MVRDV

Terrassenförmig angeordnete Bücherregale ziehen sich bis unter die Decke. Die Wände sind über und über mit Büchern bedeckt,  die Regalböden dienen  gleichzeitig als Sitzflächen. In den Stockwerken über der Bibliothek sind Lese- und Konferenzräume, Arbeitsplätze, Computerlabore und ein Audiobereich untergebracht.  

Snøhetta

Die Charles Library in Temple, Philadelphia, wurde vom Architekturbüro Snøhetta in Zusammenarbeit mit Stantec entworfen, sie wurde im Herbst 2019 eröffnet, rechtzeitig zum Start des Wintersemesters an der Temple University, zu der die Bibliothek gehört. 

Michael Grimm

Das Gebäude ist weit mehr als eine Hülle für Bücher, es stellt Räume für die soziale Interaktion bereit. Es gibt 3 Eingänge zur Bibliothek, man gelangt zunächst ins Atrium und dann in die unterschiedlichen Ebenen des Hauses. Im 4. Stock gibt es einen Lesegarten mit vielen Pflanzen, auch im Außenbereich gibt es einen freespace, Klassenzimmer im Freien. Die Architektur beeindruckt durch die großen Holzbögen und viel Glas.

Sindre Ellingsen

Der von Helen & Hard Architekten geplante Bau liegt am Hafen  mit wunderschönem Ausblick aufs Meer und die Inseln. Das Gebäude fungiert als Verbindung zwischen Stadtzentrum und Hafen. Das organische Gebäude sieht aus jedem Blickwinkel anders aus. Der Bau beherbergt Lese- und Besprechungsräume, ein eigenes Jugendzentrum und ein Café. Sitzsäcke laden zum Verweilen ein.  

Bibliotheken als "Dritte Orte"

Bibliotheken sollen, neben Zuhause und Arbeitsplatz, zu sogenannten „Dritten Orten“ werden, zu sozialen Orten, wo man sich gerne aufhält. Damit das gelingt, sind viele der neuen Bauten fast rund um die Uhr geöffnet, bei der Planung wird ausreichend Raum für Veranstaltungen eingeplant. Menschen sollen in die Bibliothek kommen, um zu entspannen, Zeitung zu lesen, einen Kaffee zu trinken oder das kostenfreie Wlan zu nutzen.

Dietrich untertrifaller

Dietrich Untertrifaller Architekten haben den Architekturwettbewerb für den Bau der Dornbirner Stadtbücherei gewonnen. Ihr Entwurf sieht einen zweigeschossigen Pavillon vor. „Wir wollen den alten Baumbestand erhalten und haben den Neubau so platziert, dass wir darauf Rücksicht nehmen könnten“, sagt Planer Peter Nussbaumer.

Stadt Dornbirn

An den bestehenden Pfad  durch die Wiese  schließt ein Weg durch den Pavillon an. Dieser beherbergt Foyer, Bücherausleihe und  Lounge, Kreativraum, Leseraum, Laborbereiche und Gamingraum. Der Glasfassade ist eine Schicht aus unregelmäßigen Keramiklamellen vorgehängt, einem Regal mit unterschiedlich großen Büchern gleich.

Als „Wohnzimmererweiterung“ beschreibt Planer Peter Nussbaumer von Dietrich Untertrifaller Architekten ZT den Zweck der neuen Generation von Bibliotheken. Das Architekturbüro hat sich mit seinem Entwurf für die neue Stadtbücherei Dornbirn im Wettbewerb durchgesetzt, im November eröffnet der Neubau. „Die Idee war, dass es neben Bücherregalen auch Spielotheken, Gamingräume, Experimentierzonen und Laborbereiche gibt“, erzählt Nussbaumer. Bei der Planung wurde berücksichtigt, dass es Räume für die Schülerbetreuung sowie für Veranstaltungen braucht. „Wir wollten eine Aufenthaltsqualität schaffen, die viele Menschen dazu animiert, die Bibliothek zu besuchen“, so Nussbaumer. Um den kommunikativen Aspekt des Gebäudes zu verstärken, befinden sich im gesamten Gebäude keine Abtrennungen. Peter Nussbaumer: „Der Pavillon ist offen gestaltet, man kann über alle Ebenen kommunizieren.“

Max Touhey | www.metouhey.com/Max Touhey/www.metouhey.com

Nach rund zehn Jahren Bauzeit und mehr als 40 Millionen Dollar  Kosten hat New York eine neue Stadtteilbibliothek. Die relativ kleine Bücherei  – im Vergleich zu den benachbarten  Luxuswohntürmen  – ist ein in  weiß gehaltener Bau im Viertel Long Island City am Ufer des East River mit auffällig geformten  Fenstern. Der Neubau mit über 2.000 Quadratmetern Fläche wurde von Steven Holl Architects geplant und im September 2019 fertig gestellt.

 

Max Touhey | www.metouhey.com/Max Touhey/www.metouhey.com

Auf sechs Ebenen  befinden sich Ruhe- und Treffpunktzonen, Interneträume, eine Gamingarea  sowie Lesebereiche. Ein Auditorium im Erdgeschoß bietet Raum für Veranstaltungen. Die Innenräume sind mit Bambus verkleidet, was ihnen  einen wohnlichen Charakter verleiht. Besucher erwartet von allen Etagen aus ein Panoramablick über die Skyline von Manhattan.  

Dasselbe gilt für die Hunters Point Library in New York, die vor wenigen Tagen eröffnet wurde. Die sechs Stockwerke sind nur durch schmale Stiegen miteinander verbunden, es gibt kaum Wände. Digitale und analoge Medien sind in den Regalen bunt gemischt. Die Lesezonen sind in Bereiche für Kinder, Jugendliche und Erwachsene unterteilt. Das Gebäude, das als kultureller Begegnungsort von Steven Holl Architects gestaltet wurde, ist von einem öffentlichen Park umgeben, auch die Dachterrasse und ein Café laden Besucher zum Verweilen ein.

Kuvatoimisto Kuvio Oy

Vom finnischen Architekturbüro ALA Architects gestaltet, schwebt die Bibliothek wie eine Welle zwischen den Gebäuden. Der Eingang  ist ein holzverkleideter Trichter, innen ermöglichen zwei  Stahlträger ein mehr als 100 Meter langes Foyer.

 

©2018 Tuomas Uusheimo: www.uusheimo.com

Nur ein Drittel der Fläche mit  17.000 Quadratmetern  werden für Bücher verwendet. Der Rest des  Neubaus dient  als Aufenthaltsraum,  neben der Lobby für Ausstellungen stehen auch ein Kino, Arbeits- und Seminarräume bereit.  

©2018 Tuomas Uusheimo: www.uusheimo.com

Das Gebäude, 2018 fertiggestellt,  ist eine  Ode an die Gemeinschaft, ein Schild verrät: „Herumhängen ist erwünscht. Oodi ist unser gemeinsames Wohnzimmer.“  

Die neue Bibliothek in Helsinki namens „Oodi“ (übersetzt: Ode) geht noch einen Schritt weiter: Hier ist zwar eine Etage als klassische Bibliothek gestaltet, doch das restliche Gebäude ist für verschiedene Aktivitäten reserviert. Es gibt Studios, Musikräume, man kann sich Instrumente ausleihen. Es gibt Medienräume und einen Makerspace, der wie ein Maschinenraum gestaltet wurde, mit 3-D-Druckern und Nähmaschinen. Hier sind die Mitarbeiter dazu da, Besuchern neue Technologien näher zu bringen. Das Erdgeschoß bietet Raum für Interaktionen mit Kaffeehaus, Kino und Aufenthaltsräumen. Spannend: auch die Bücherausleihe wurde auf neue Beine gestellt – ein Roboter nimmt ausgeliehene Bücher zurück und bringt sie in das richtige Regal.

ACME/CC BY-NC 2.0

Eine Million Bücher besitzt die 2018 eröffnete Bibliothek, geplant vom niederländischen Stararchitekten Rem Koolhaas. Sie liegt in der Education City von Doha und ist die erste öffentlich zugängliche Bibliothek. Von außen  besticht das Gebäude durch  das weit auskragende Dach. 

ACME/CC BY-NC 2.0

Im Inneren angekommen fällt die Erbe-Bibliothek auf, die Rem Koolhaas wie eine  Grabungsstätte platziert hat. Die Bücherregale mit 500.000 Büchern gruppieren sich auf ansteigenden Rängen, weitere 500.000 lagern im  Magazin. Hingucker: Auf einer Bar fahren die Neuerwerbungen des Hauses vorbei. 

Auch die National Library in Doha, geplant von Rem Koolhaas, will lebendiger Ort des Austausch sein. Auf einer geschwungenen Bar fahren Bücher im Kreis. Sitzsäcke sorgen für entspanntes Lesen und Schmökern. Wer es konzentrierter mag, nützt einen der Lesesäle oder ein Besprechungszimmer. Außerdem steht ein Computerlabor zur Verfügung, wo man Musik komponieren oder den 3-D-Drucker nutzen kann. Ein anderes Labor mit Blue- und Greenscreen bietet die Möglichkeit, Videos zu drehen. Ein Auditorium mit 200 Plätzen steht für Veranstaltungen und Konzerte zur Verfügung.

All die Beispiele zeigen, wie groß die Rolle der Architektur ist, um Bibliotheken neu zu definieren: Leuchtturmprojekte für öffentlichen Raum und Kommunikationszonen.

Wohnen
Gewerbe