Wo einst Güter verladen wurden, wächst die Großstadt: Nun ist ein Teil der „Flaniermeile“ Bruno-Marek-Allee fertig.
Das weiße Wohnhaus „An den Kohlenrutschen“ gleicht von außen einem eleganten Stadthaus. Ein Blick ins Innere verrät, dass die Bewohner hier etwas anders leben, als in den umliegenden Gebäuden: nämlich gemeinschaftlich. Es gibt eine Gemeinschaftsküche, einen Kinderspielraum und große Gemeinschaftsterrassen für alle Bewohner. „Wir sind vor zwei Monaten eingezogen und haben uns schon sehr darauf gefreut“, sagt Theresa Krenn, Architektin vom Studio UEK und für die Planung des „Wohnprojekts Kohlerutschen“ verantwortlich. „Die Nähe zur Donau macht das Viertel sehr attraktiv.“
In den vergangenen Wochen wurde im Nordbahnhof-Viertel in Wien-Leopoldstadt eine weitere, wichtige Baustufe fertig gebaut: das Gebiet rund um die Bruno-Marek-Allee, die bei Fertigstellung des gesamten Areals 2025 die zentrale Einkaufsmeile mit Geschäften, Sozialeinrichtungen und Gastronomiebetrieben bilden soll. Insgesamt wird der neue Stadtteil am ehemaligen Gelände des Frachtenbahnhofs 75 Hektar groß. Derzeit ist noch ein Schulcampus in Bau, der kommenden Herbst seine Pforten öffnet.
Gemeinsam mit dem Areal des Nordwestbahnhofs, das im Westen angrenzt, werden bei Fertigstellung 32.000 Menschen leben – und damit mehr als in der Seestadt Aspern. Schon jetzt, kurz nach der Eröffnung, erfüllt die Bruno-Marek-Allee diese Funktion recht gut. An der Ecke zum ebenfalls kürzlich bezogenen Austria Campus der Bank Austria hat ein „Habibi & Hawara“-Restaurant geöffnet. Um einen Tisch noch vor Weihnachten zu ergattern, braucht man etwas Glück – so gut gebucht ist die Gaststätte bereits. Das Konzept von Habibi & Hawara ist es, geflüchteten Menschen eine Ausbildung in Österreich zu ermöglichen. „Küchenchef Mohammad Aljassem hat als Küchengehilfe in unserem Restaurant in der Innenstadt begonnen. Jetzt gehören ihm zehn Prozent am Restaurant im Nordbahn-Viertel“, erzählt Geschäftsführer Josef Pieringer stolz.
Und auch die neue Bäckerei „Gragger & Chorherr“, die der ehemalige Grün-Politiker Christoph Chorherr gemeinsam mit Bäckermeister Helmut Gragger aufsperrte, zieht das Publikum magisch an. Auch hier gibt es einen sozialen Anspruch: Ausgebildet werden am Arbeitsmarkt benachteiligte Menschen.
Zur besseren Erreichbarkeit des Nordbahnhof-Viertels wird ab nächstem Jahr die Straßenbahnlinie O vom Praterstern ins neue Grätzel verlängert. Generell soll das gesamte Quartier verkehrsberuhigt sein, um die Aufenthaltsqualität in den öffentlichen Flächen zu erhöhen.
Fertig gebaut ist das Nordbahnhof-Viertel aber bei weitem nicht: Bis 2026 entstehen noch mehr als 5.000 neue Wohnungen. Zentraler Punkt des neuen Stadtviertels – neben der Bruno-Marek-Allee – wird die so genannte „Freie Mitte“ sein, ein zehn Hektar großes Grünareal samt naturnaher, urbaner Wildnis. Zum Vergleich: Die Fläche wird dreimal so groß wie der bereits bestehende Bednarpark im Osten des Viertels.Rund um die Freie Mitte sind relativ verdichtete, sprich hohe, Wohnbauten geplant. Insgesamt sechs Hochhäuser bis zu 80 Meter sollen errichtet werden. Das städtebauliche Konzept sieht vor, dass die unterschiedlichen Höhen der einzelnen Wohnbauten eine gewisse optische Lockerheit in der Bebauung gewährleisten sollen.
Ein gewisser Wermutstropfen unter den Bewohnern ist, dass die alte Nordbahnhalle kürzlich abgebrannt ist. Die aus früheren Zeiten stammende Lagerhalle wurde in den vergangenen Jahren als kultureller und nachbarschaftlicher Treffpunkt vielfältig genutzt – im Sommer fanden etwa regelmäßig Konzerte und Freiluftkino statt. Diese Woche wurde sie schließlich abgerissen, weil ein Wiederaufbau nicht rentabel wäre. Fraglich ist, ob anstelle der Nordbahnhalle ein anderes Kulturzentrum gebaut wird – was für die Entstehung einer lebendigen Nachbarschaft wichtig wäre.